Frau mit Brille von Lunor

Domenico Franzo ist 28 Jahre alt, lebt im Nordschwarzwald und führt ein Doppelleben. Ein Leben zwischen Tanzen und Brillen. Tagsüber vertreibt er Brillen der Brillenmanufaktur Lunor in alle Welt. Abends und am Wochenende tanzt er auf dem höchstmöglichen Niveau in Deutschland um Meistertitel. Wie sehr sich die beiden Leben ergänzen wurde ihm erst mit den Jahren bewusst.

Als ich den Tanzsaal betrete schlägt mir ein ohrenbetäubender Samba-Rhythmus entgegen. Ich kann mich kaum gegen den Takt wehren, der in meine Beine und Füße kriecht. Fehlt nur noch eine Bar voller lachender Menschen und dieser bekannte Longdrink mit Rum und Cola aus der Werbung. Aber statt einer kubanischen Partygesellschaft steht in diesem riesigen Saal ein einsames Tanzpaar mit ernster Miene und diskutiert. Ich frage mich zwar, wie sie sich bei der Lautstärke überhaupt verstehen können, erkenne aber, dass ich jetzt besser nicht störe. Zum Glück konnte ich schon vorher mit Domenico sprechen.

Als Erstklässler wurde Domenico zum ersten Mal in seinem Leben auf das Tanzen aufmerksam. Ein Kumpel wollte ihn zum Mitkommen überreden – aber damals hatte das Gitarrespielen noch Priorität. Erst als er ein paar Jahre später im Fernsehen einen Beitrag über Turniertanzen sah, kam ihm das Angebot seines Kumpels wieder in den Sinn: „Irgendetwas am Tanzen hat mir gefallen. Also bin ich einfach mit meinem Kumpel zum Training mitgekommen. Von diesem Tag an wollten mich die Trainer nicht mehr gehen lassen.“ Das lag nicht nur am chronischen Mangel des männlichen Tanznachwuchses (das führt dann dazu, dass im Breitensport durchaus auch Mädchen mit Mädchen tanzen müssen). Das Talent des damals 12-Jährigen war nicht zu übersehen. Er entwickelte Spaß und Ehrgeiz für das Tanzen. Das einwöchige Tanztraining zeigte gute Ergebnisse auf den ersten Turnieren. „Mit meiner zweiten Tanzpartnerin stand ich dann 6 Jahre gemeinsam auf dem Parkett. In der Tanzwelt ist das eine wahnsinnig lange Zeit. Gemeinsam haben wir alles erreicht, was zu diesem Zeitpunkt und in unseren jungen Jahren möglich war.“ Als baden-württembergische Landesmeister lösten sie dann endgültig das Ticket für die höchstmögliche Klasse. Zu diesem Zeitpunkt war Domenico gerade mal 18 Jahre alt. „Mein Trainer sagte einmal zu mir, dass ich diese Meisterschaft nicht gewonnen habe, weil ich außergewöhnlich gut bin, sondern weil ich speziell tanze. Speziell im Stil, im Ausdruck, in meiner Herangehensweise.“

Diese Worte hallen in meinem Kopf nach, als ich Domenico dabei beobachte, wie er sich von der einen Ecke des Saales in die andere bewegt. Entschlossen zieht er seine Tanzpartnerin an sich heran um sie dann wieder von sich fortzustoßen. Sein Gesichtsausdruck wechselt von konzentriert, zu strahlend, über streng bis hin zu leidenschaftlich. Es ist einer der Momente, in denen man einen Menschen plötzlich mit ganz anderen Augen wahrnimmt.

Der Durchbruch in die höchste Klasse ist mittlerweile zehn Jahre her, aber seinen unverwechselbaren Stil hat er sich bis heute bewahrt. Trotzdem hat sich in diesen zehn Jahren viel verändert und wenn man mit Domenico so spricht, hat man nicht das Gefühl, dass das ausschließlich seine Tanztechnik oder seine körperliche Entwicklung betrifft. Über die Fakten ist schnell alles geklärt: mit 12 Jahren fing alles an, mit 18 Jahren der offizielle Aufstieg in die Hauptgruppe S, mit seiner aktuellen Partnerin tanzt er bereits seit 3 Jahren. Es gibt aber auch die Fragen, die Domenico nicht so schnell beantworten kann. Die ihn ruhig und nachdenklich machen. Man sieht in seinen Augen, dass gerade viel in ihm vorgeht, was aber nicht so einfach ausgedrückt werden kann. Zum Beispiel die Frage nach der Vereinbarkeit von Tanzen und einer Lebenspartnerin. Er überlegt lange, bevor er fortfährt: „Wie soll ich das erklären? Es ist schwierig. Weißt du, jede Berührung zwischen einem Tanzpaar hat eine Bedeutung. Wenn ein Mann und eine Frau sich berühren, und das müssen wir beim Tanzen nun mal, entsteht daraus eine Empfindung. Ich bin sehr viel mit meiner Tanzpartnerin unterwegs und verbringe viel Zeit mit ihr. Wir nehmen das Tanzen sehr ernst und sprechen oft und tiefgründig darüber. Ich würde sagen, dass zwischen einem Tanzpaar immer auch eine Form der Liebe besteht. Welche Lebenspartnerin macht so etwas mit?“

Für eine Frau das Tanzen aufzugeben wäre niemals für ihn in Frage gekommen. Überhaupt das Tanzen aufgeben, egal aus welchem Grund, war nie eine Option. Um auf diesem Niveau dauerhaft zu bestehen, ist ein hohes Trainingspensum erforderlich: fünf Mal wöchentlich trainiert er für zwei bis drei Stunden mit seiner Partnerin. Die Turniere mit An- und Abreise kommen dann am Wochenende nochmal obendrauf. Ohne Selbstdisziplin und Verzicht ist das nicht zu stemmen. Diese leidvolle Erfahrung musste auch Domenico machen. „Wenn ich sehe, welche steilen Karrieren Freunde aus meiner Schulzeit so hingelegt haben, komme ich schon manchmal ins Grübeln. Das Tanzen war für mich immer das Wichtigste – wichtiger als Schule, als Ausbildung, einfach wichtiger als alles andere. So litt auch mein Studium darunter und ich musste es abbrechen. Ich entschied mich dann für eine Ausbildung. Im Endeffekt bin ich froh darum, denn ich arbeite jetzt schon seit 6 Jahren für Lunor und habe die perfekte Kombination gefunden.“

Beim Premiumhersteller für Brillenfassungen betreut Domenico die Großhändler in aller Welt. Ohne sein Headset und eine täglich wechselnde Brille ist er hier nicht anzutreffen. Wenn viel los ist, wirbelt er durch das Büro wie durch einen Tanzsaal: seine Kunden und Aufträge fest im Griff, auch eine spontane Drehung führt er sauber aus. Er liebt seinen Job, insbesondere den direkten Kundenkontakt auf Messen. „Im Vergleich zu Tänzern, die mit dem Tanzen ihr Geld verdienen, habe ich manchmal das Gefühl, alles nur halb zu machen. Ich werde nie so viele Stunden trainieren können wie diese Tänzer. Aber ich brauche das Tanzen genauso wie meinen Job. Die beiden Bereiche meines Lebens gleichen sich aus… und ja, vielleicht ergänzen sie sich sogar.“

Als die Musik abbricht, wird der Raum mit Stille, Schweiß und tiefen Atemzügen erfüllt. Das Strahlen in den Gesichtern der Tanzpartner weicht augenblicklich einer konzentrierten Miene. Die Schritte, Figuren und Körperhaltungen werden analysiert. Ich unterbreche die Beiden und will wissen, ob sie sich auch gegenseitig verbessern. „Schon. Aber es hat anfangs etwas gedauert, bis ich ihre Kritik richtig annehmen und umsetzen konnte. Ich musste einfach verstehen, dass mich ihre Ehrlichkeit nur weiterbringt.“ Sie schmunzelt.

Wie sehr ihn diese zwischenmenschliche Komponente auch beruflich weitergebracht hat, das bemerkt er vor allem im direkten Umgang mit Menschen: „Durch das Tanzen, das viele psychologische Komponenten beinhaltet, habe ich eine sehr gute Menschenkenntnis. Ich kann auf unterschiedliche Persönlichkeiten und Charaktere eingehen. Ich habe gelernt, dass man nicht mit jedem Menschen gleich sprechen kann. Vieles läuft auch über nonverbale Kommunikation. Das hat sich durch das Tanzen ganz intuitiv in mir festgesetzt.“

Die Doppelbelastung aus Job und Tanzen funktioniert nur mit großem Durchhaltevermögen. Nach der Arbeit geht es ins Training. Vor 22 Uhr ist Domenico nie zu Hause. „Ich weiß gar nicht wie es ist, sich nach der Arbeit einfach aufs Sofa fallen zu lassen“, lacht er.

Trotz aller Anstrengung: ein Leben ohne Tanzen wäre kein Leben für Domenico. Es ist mehr als eine Leidenschaft – aber was genau es ist, da gerät der Mann mit den italienischen Wurzeln wieder aus dem Konzept. „Das Tanzen ist so vielschichtig, es befreit mich, ich kann abschalten. Sobald ich los tanze, verschwende ich keinen Gedanken mehr an etwas anderes. Ich bin voll konzentriert. Aber auch meine ganze Einstellung, meine Persönlichkeit wurde stark geprägt. Ich bin stolz darauf, so viel erreicht zu haben und immer ein gutes Feedback, zum Beispiel vom Bundestrainer, bekommen zu haben. Und das, obwohl ich mit Job und Tanzen zweigleisig fahre.“ Er macht noch einmal eine längere Pause, lässt seinen Blick schweifen und fährt dann fort: „Ich wünsche mir einfach, dass jeder Mensch etwas findet, was ihn so glücklich macht wie es mich das Tanzen macht.“

Teilen: